Die Muspaeds |

Schein oder nicht Schein

Eine Klavierpädagogin aus Baden-Württemberg wurde über viele Jahre als Honorarkraft beschäftigt - zu Unrecht, wie das Bundessozialgericht (BSG) im Juni 2022 urteilte. Die Lehrtätigkeit der "freien" Pädagogin weise deutliche Merkmale einer abhängigen, d.h. sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung auf. Auch wenn sich dieses so genannte Herrenberg-Urteil nicht ohne Weiteres auf die individuelle Situation von Honorarkräften in der Kulturvermittlung übertragen lässt, lohnt es sich, die Argumentation des Gerichtes einmal genauer anzuschauen.

Eine abhängige Beschäftigung kann vorliegen, selbst wenn zwischen Auftraggebenden (z.B. einem Museum) und Auftragnehmenden (Vermittler:innen, Künstler:innen etc.) ein selbständiges Dienstverhältnis (z.B. ein Honorarvertrag) vereinbart wurde. Über die Einordnung "selbständig" oder "abhängig beschäftigt" entscheidet nicht der Wortlaut der Verträge, sondern die "gelebte Praxis".

Die "gelebte Praxis" lässt sich im Vergleich einer abhängigen Beschäftigung versus einer echten Selbständigkeit anhand bestimmter Merkmale formulieren:

- Festgelegte Honorarsätze versus Eigene Honorarkalkulation und -verhandlung

- Vermittlung durch einen Dienstleister versus Kundenbeziehungen in eigenem Namen

- Institution ist Vertragspartner versus Kulturvermittler:in ist Vertragspartner

- Schadens- und Haftpflichtversicherung durch den Auftraggeber versus Eigene Versicherung

- kostenfreie Nutzung von Räumen und Material versus Anmietung

- Nur Einsatz von Arbeitskraft versus Unternehmerisches Risiko, Einsatz von Eigenkapital

Diese und andere Merkmale werden vom Gericht in jedem Einzelfall abgewogen, sodass ein einfaches Zusammenzählen von Merkmalen noch keine belastbare Aussage über echte Selbständigkeit oder Scheinselbständigkeit zulässt. Dennoch reicht die Bedeutung des "Herrenberg-Urteils" mittlerweile weit über die Musikschulen hinaus.

Für Kulturvermittler:innen mit Honorarvertrag bedeutet eine möglicherweise "falsche" Zuordnung, dass ihnen sowohl eine bezahlbare soziale Absicherung wie auch die daraus folgenden Rentenansprüche vorenthalten werden. Das ist von Bedeutung vor allem für die Vielen, die nicht künstlerisch tätig sind und daher keinen Zugang zur Künstlersozialkasse (KSK) bekommen.

Wird tatsächlich "Scheinselbständigkeit" nachgewiesen, müssen die Institutionen Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen und die bis dato "freien" Kräfte per Arbeitsvertrag anstellen. Das gilt auch, wenn eine oder beide Seiten - die Honorarkraft und/oder die Institution - gar keine Anstellung will.

Eine Lösung für dieses Problem bietet möglicherweise das "Basismodell für selbständige Kreative" (als pdf abrufbar). Dieses Modell wurde 2022 von ver.di Kunst und Kultur auf den Weg gebracht und bedeutet in aller Kürze: Die Kreativen bleiben (tatsächlich) selbständig, gleichzeitig wird ihr Honorar an den TVöD (oder vergleichbare Tarife in den Ländern) gekoppelt. Das Honorar stiege damit endlich auf eine Höhe, die die Existenz der Kreativen sichert, gleichzeitig würde der vom Kulturbetrieb geforderte flexible und stundenweise Einsatz beibehalten. Auch das Problem einer möglichen Scheinselbständigkeit wird in diesem Modell gelöst, da von beiden Seiten - den Kreativen und den Auftraggebern - Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden.

Es sieht so aus, als würde es sich für beide Seiten lohnen, das "Basismodell für selbständige Kreative" für die Kulturvermittler:innen in Hamburg einzuführen.

Weitere Informationen zu diesen Thema:

2023 hat der Spitzenverband der Sozialversicherungen (GVK) mit Sitz in Berlin seine Beurteilungsmaßstäbe präzisiert, das heißt, die vorhandene oder fehlende unternehmerische Gestaltungsfreiheit (siehe "gelebte Praxis") stärker in den Mittelpunkt der Beurteilung gerückt.

Im Mai 2024 beurteilte das Sozialgericht Darmstadt das angeblich "freie" Beschäftigungsverhältnis einer Reitlehrerin als ein abhängiges.

Ebenfalls im Mai 2024 schlug die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft für alle, die in der Weiterbildung tätig sind, ein gesichertes Beschäftigungsverhältnis vor auf der Basis eines Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD).

Ein Überblick über weitere Urteile zur Scheinselbstständigkeit auf haufe.de.

Reload

Neue Eingabemaske für Kommentare laden

Hinterlasse einen Kommentar

Verfügbare Formatierungen

Benutze Markdown-Befehle oder ihre HTML-Äquivalente, um deinen Kommentar zu formatieren:

Textauszeichnungen
*kursiv*, **fett**, ~~durchgestrichen~~, `Code` und <mark>markierter Text</mark>.
Listen
- Listenpunkt 1
- Listenpunkt 1
1. Nummerierte Liste 1
2. Nummerierte Liste 2
Zitate
> Zitierter Text
Code-Blöcke
```
// Ein einfacher Code-Block
```
```php
// Etwas PHP-Code
phpinfo();
```
Verlinkungen
[Link-Text](https://example.com)
Vollständige URLs werden automatisch in Links umgewandelt.